DOSSIER: HOMOPHOBIE


25. Juli 2014 TanjaKeller 0 Comment

“Gaaaaaaaaaaay” schreit es in der WM-Zeit nur all zu häufig aus fußballschauenden Menschenmengen und in den Kommentarspalten von Fußballseiten und privaten Einträgen, wenn ein Spieler daneben trifft oder eine Chance verpasst. Und auch im (Netz-)Alltag scheint sich das Wort “schwul”, ursprünglich als Beschimpfung für, dann als Selbstbezeichnung von homosexuellen Menschen verwendet, zur “Lieblingsbeleidigung” unsicherer, aber auch klar homophober User*innen gemausert zu haben. no-nazi.net erklärt, wie sich Homophobie im Netz äußert, und warum “schwul” kein Schimpfwort ist.

Wer zum Kicken auf den Schulhof läuft oder sich durch Fußballforen klickt, wer sich in den überfüllten Schulbus drängt und Unterhaltungen mithört oder auf dem Smartphone der Sitznachbarin oder des Sitznachbars mitliest oder einfach nur aufmerksam einer Kneipenunterhaltung oder Netz-Diskussion lauscht, wird überrascht sein, wie viele Alltagsgegenstände und -aktivitäten über eine heimliche Sexualität zu verfügen scheinen. Der schwache Schuss beim Fußball oder eine freundliche Geste gegenüber einem Mitschüler: “schwul”, die falschen Schuhe oder das fliederfarbene Shirt: “mega gay” – aber nachgefragt, mit welchem Partner sich das fliederfarbene Shirt nun vergnügen mag, hat noch keiner.

Ist euch das auch schon einmal aufgefallen? Seid ihr auch permanent von “schwul”-schreienden Mitschüler*innen umgeben? Oder mittendrin dabei? Was ist schlimm daran, “aus Spaß” oder ziemlich ernst jemanden oder etwas als “schwul” oder “gay” zu bezeichnen? Ist “Schwulsein” nicht eigentlich längst schon in unserer Gesellschaft angenommen und angekommen?

Homophobie im Netz – und in der Gesellschaft

Der homophobe Web-Kampf gegen Conchita Wurst ist gerade erst verklungen, sich als Fußballer zu outen angeblich “kein großes Ding” mehr, und auch die Berichterstattung rund um Pussy Riot ist zurückgegangen. Es scheint, als wäre wieder “alles gut”. Aber Schwule und Lesben dürfen noch immer keine Kinder gemeinsam adoptieren und die Gleichstellung der Ehe zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau ist ebenfalls noch nicht durch. Die Internetforen quellen über von homophoben und heterosexistischen Kommentaren, Fotos und Videos. On- und Offlineveranstaltungen gegen Homoehe oder angebliche “Umerziehungs”-Pläne der Bildungspolitik haben Konjunktur und Vorurteile gegenüber Homosexuellen flammen in jeder Diskussion über AIDS und Blutspenden auf. Alles gut ist also lange noch nicht. Wer “schwul” als Schimpfwort benutzt, reiht sich damit in eine lange Tradition von Unterdrückung alternativer Liebens- und Lebensmodelle ein.

Kluge Antwort: Dieser User reagiert genau richtig auf den homophoben Kommentar seines Vorredners. Die Strategie, Selbstmordstatistiken heranzuziehen, um zu erklären, dass Homosexualität eine Krankheit ist, ist zwar in homophoben Kreisen weit verbreitet, läuft aber am Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung und Schambildung, der eigentlichen Ursachen für Selbstmordgedanken, völlig vorbei.

Weil Homophobie ein ziemlich umfassendes und breit diskutiertes Thema ist, kommen wir nicht drum herum, hier mit eine Menge Begriffen um uns zu werfen. Denn das, was man in rechten Kreisen abwertend als “Regenbogen-Ideologie” bezeichnet, ist ein komplexes theoretisches System von Überlegungen zu menschlicher Sexualität. In diesem Dossier wollen wir versuchen, euch die Aktivitäten homophober Menschen im Netz zu erklären und gleichzeitig Grundbegriffe der Diskussion klären. Das Wort “Homophobie” ist aus den zwei Begriffen “Homo” und “Phobie” zusammengesetzt. “Homo” (von dem griechischen homós = “gleich”) steht für die sexuelle Orientierung zum eigenen Geschlecht, während “hetero” als Gegensatz (heteros = “das andere”, “ungleich”) dazu die Neigung zu Personen des anderen Geschlechts bezeichnet. Die Kombination aus “Homo” und “Phobie” könnte man nun als Krankheitsbild falsch verstehen, wir möchten an dieser Stelle aber ein viral gewordenes Netz-Zitat anbringen:

“Ich hasse das Wort Homophobie. Es ist keine Phobie. Du hast keine Angst. Du bist ein Arschloch.” – Morgan Freeman

Diese angebliche Twitter-Botschaft des Schauspielers verbreitete sich rasch im Internet. Zwar stammt das Zitat nicht von Morgan Freeman, trotzdem trifft es den Kern der Problematik des Wortes “Homophobie”. Denn so wie Antisemitismus keine “Meinung” ist, ist Hass auf homosexuelle Menschen keine Phobie. Die ganze Geschichte hier

Ähnlich wie bei dem Wort “Islamophobie” (siehe auch Dossier zu Antimuslimischen Rassismus) wird hier suggeriert, dass eine Form von krankhafter Angst die Abneigung gegenüber Schwulen und Lesben auslöse. Viele homophob eingestellte Menschen “leiden” zwar tatsächlich unter einer Form von Angst oder starker Unsicherheit bezüglich ihrer eigenen Sexualität, das heißt aber nicht, dass diese Form von GMF entschuldbar sei oder als “Krankheit” gelten könnte. Besonders zynisch in diesem Zusammenhang ist, dass gerade homophobe Menschen Homosexualität als “Krankheit” ansehen, als “Abart” oder “genetischen Defekt”. Kurz: alles was von der “Norm” abweicht, kann nur “krank” sein.

Heteronormativität als Ausgangspunkt homophober Beleidigungen im Internet

An dieser Stelle kommt schon unser nächster Begriff ins Spiel. Eine “Norm” – das kennt ihr aus dem Alltagsgebrauch in “normal” – bezeichnet eine vorgegebene, als richtig angesehene Regel beziehungsweise ein ganzes System aus Werten. In der öffentlichen Diskussion im Netz, aber auch in der Fachliteratur ist häufig von “Heteronormativität” die Rede. Hier steht “hetero” vorne, die “Norm” bildet den Begriff, der die gesellschaftliche Praxis bezeichnet, Heterosexualität als “Norm”, also eben als einzig “wertvolle”, vorbildliche Form möglicher sexueller Identitäten zu zementieren.

Die Idee, Homosexualität sei eine Krankheit findet sich in vielen Köpfen – und darum auch in vielen Beiträgen im Netz. Wir haben dazu eine humorvolle Antwort auf Twitter gefunden:

“Homosexualität galt in Schweden noch 1979 als Krankheit. Die Schweden protestierten, indem sie sich bei der Arbeit krank meldeten – sie würden sich “schwul” fühlen und darum nicht zu Arbeit erscheinen können”

 

Daraus ergibt sich unser nächstes Problemfeld, der Heterosexismus. Mit einer kleinen mathematischen Gleichung lässt sich der ganz leicht erklären. Mann + Frau = Kind. Während sich die

rechte Seite der Gleichung beliebig multiplizieren lässt, scheint die rechte Seite eine feste, unbewegliche Angelegenheit zu sein. Heterosexistische Menschen sind quasi die Gläubigen der Heteronormativität und sehen die “Mama, Papa, Kind”-Familie als einzig mögliche Konzeption von Familie.

Im Netz zeigt sich Heterosexismus besonders häufig unterschwellig, zum Beispiel in Bildern von klassischen Paaren oder Familien. Das bedeutet natürlich nicht, dass (ein hetersoxueller) jemand, der ein Bild von sich mit Partner*in hochlädt, gleich ein Heterosexist ist. Problematisch wird es erst, wenn in jedem Fall von Partnerschaft automatisch heterosexuelle Verbindungen vorausgesetzt werden und diese als “Norm” hingestellt werden.

Überlegt selbst einmal: Würdet ihr euch trauen, euch vor euren Freunden und Verwandten zu outen? Würdet ihr einen schwulen Freund oder eine lesbische Freundin unterstützen?

Konstruierte Gegensatzpaare

Gegner der Gleichstellung der gleichgeschlechlechtlichen Ehe haben hier in Analogie zum bekanntenSymbol für die Gleichstellung (rotes Gleichzeichen auf rotem Grund) ihr eigenes Symbol der Intoleranz geschaffen

Wie bei jeder gesellschaftlichen Norm liegen hier verschiedene Grundannahmen vor. Einmal der klare Gegensatz zwischen “homo” und “hetero”, der suggeriert, man könne nur eines von beiden sein und müsse sich zwangsweise entscheiden, ob man das andere Geschlecht vorzieht, und damit “der Norm” entspricht, oder eben das eigene, was oftmals gesellschaftliche Diskriminierung mit sich bringt. Versteckt hinter diesem Gegensatzpaar liegt klar die strenge Trennung von Mann und Frau. Die Idee, dass Mann und Frau zwei grundsätzlich verschiedene Angelegenheiten wären, spiegelt sich in allen Bereichen der Gesellschaft: Berufsleben, Erziehung, Freizeitgestaltung und Sprache. Die Idee, es gebe ganz klar nur Mann und Frau, in Kombination mit der Idee, dass diese beiden Konstrukte irgendwie “füreinander geschaffen” seien, ist in religiösen, staatlichen und institutionellen Strukturen fest verankert und auch im Netz wird in Diskussionen und Kommentarspalten immer wieder deutlich, dass viele Menschen hartnäckig und mit (verbaler) Gewalt auf diesem Gegensatzpaar beharren.

Verschiedene Formen von Sexualität

Abgesehen davon, dass diese hart undurchlässig konstruierte Zweiteilung verschiedene Sexismen begünstigt, fallen verschiedene Gruppen bei dieser Konstruktion leider raus: Inter- und Transsexuelle oder Transgender-Menschen zum Beispiel. Intersexuelle (sex = biologisches Geschlecht) sind Menschen mit nicht eindeutig zuordbaren Geschlechtsmerkmalen. So gibt es Menschen, die mit weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen geboren werden oder auch hormonell keine “typischen” Verteilungen aufweisen. Als transsexuell werden Menschen bezeichnet, die sich mit ihrer biologischen Geschlechtsausprägung nicht wohlfühlen und den Wunsch der Angleichung an das eigentliche, als richtig empfundene Geschlecht haben. Transgender (gender = soziales Geschlecht) bezeichnet eine Reihe von Abweichungen vom zugeschriebenen sozialen Geschlecht und den damit zusammenhängenden Rollenbildern und Geschlechtsmerkmalen. Menschen, auf die das zutrifft, sind häufig betroffen von gesellschaftlicher Augrenzung, die sich auch im Netz in Form von Cyber-Mobbing und Hate Speech manifestiert. Die österreichische Kandidatin für den Eurovision Song Contest 2014 “Conchita Wurst” beispielsweise war Zielscheibe für viele hasserfüllte Online-Kampagnen.

Vorstöße zur vorurteilsfreien sexuellen Aufklärung und die Reaktionen der Netzwelt

Screenshot einer homophoben Verschwörungstheorie-Seite, die die LGBT-Bewegung für eine “neue Sekte” zur “Anbetung Luzifers” hält. In der LGBT-Bewgung finden sich verschiedene Formen von sexuellen Identitäten, Orientierungen und Ausprägungen vertreten. Die vier Buchstaben stehen für “Lesbian”, “Gay”, “Bisexual” und “Trans”. Früher als Banner der schwulen Bürgerrechtsbewegung gilt die Flagge mit den sechs Farben des Regenbogens heute als allgemeines Symbol für LBGT. Die Regenbogenfahne wird von rechten und populistischen Bewegungen im Netz häufig aufgegriffen und in Karikaturen oder beleidigenden Fotomontagen verwendet.

Gegen sexuelle Aufklärung in der Schule protestieren diese Demonstrant*innen. Dass sie damit ihren Kindern die Chance nehmen, vorurteilsfrei mit ihrer eigenen Sexualität und alternativen Lebensmodellen umzugehen, scheint den meisten Aktivist*innen nicht bewusst – oder völlig egal – zu sein.

 Es  gibt Themen, die führen mit Sicherheit zu hitzigen, emotional aufgeladenen Diskussionen. Dazu gehören unter anderem die Bereiche “Kinder”, “Erziehung” und Sexualität. Die Verbindung von allen dreien führt mit praxiserprobter Sicherheit immer wieder zur Gemütsexplosion und dem Ausfall von Vernunft und Toleranz. So ist zum Beispiel die Überzeugung, “Die Linken” (damit sind dann wahlweise linke, grüne oder sozialdemokratische Politiker gemeint oder gleich das ganze Spektrum der “Gutmenschen”) würden Schulkinder umerziehen und zu kleinen “frühsexualisierten Lesben und Schwulen” machen wollen, trotz ihrer offensichtlichen Absurdität sehr verbreitet.

“Erziehung unter der Ideologie des Regenbogens” wird der Versuch, jungen Menschen einen sensiblen, aufmerksamen und selbstreflektierten Umgang mit Sexualität zu ermöglichen, in populistischen und rechten Kreisen auch gerne genannt. Unter ähnlichen Labels finden On- und Offline-Demonstrationen gegen längst überfällige Reformen der Bildungspolitik statt. In rechtsextremen Foren und Facebook-Gruppen fürchtet man bereits den “Volkstod” und Konservative aller Art finden sich zusammen, um sich im Netz gegen diesen angeblichen “Werteverfall” einzusetzen.

Hinter dieser unberechtigten Angst stehen häufig sexistische und homophobe Grundannahmen. Beispielsweise, dass ein Kind “ein Recht auf Mutter und Vater” habe. In der heutigen Zeit, wo selbst ein großer Teil der Kinder aus heterosexuellen Beziehungen nur mit einem Elternteil aufwächst, macht diese Behauptung wenig Sinn. Auch der Zusammenhang zwischen der homosexuellen Orientierung der Eltern und der angeblich beschränkten Fähigkeit zur freien Wahl einer heterosexuellen Beziehung ihrer Kinder oder etwa der angeblichen Unfähigkeit für eine Wert-orientierte Erziehung ist nicht haltbar. Judith Holofernes, Sängerin der Band “Wir sind Helden” und selbst Mutter, wuchs als Tochter einer lesbischen Mutter auf und setzt sich für die Gleichstellung von Ehen zwischen homosexuellen Partnern ein. Auf ihrer Website erzählt sie sehr eindrucksvoll vom wie und warum.

Ob ihr euch als männlich, weiblich oder irgendetwas dazwischen fühlt, ob ihr Männer, Frauen oder keins von beiden anziehend findet – irgendwie geht es doch immer um Liebe und darum, was sich gut und richtig anfühlt. Und das muss jede und jeder für sich selbst herausfinden. Indem ihr euren Freunden (und euch selbst) das Gefühl gebt, dass alles okay ist, wie auch immer es ist, könnt ihr dazu beitragen, dass jeder und jede seine Sexualität offen ausleben darf und sich dabei gut fühlen kann. Und das ist schließlich die Hauptsache!